Veranstaltung: | Landesdelegiertenversammlung Neuwied, 23. November 2019 |
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Tagesordnungspunkt: | 3. Sozial- und Gesundheitspolitik |
Status: | Beschluss (vorläufig) |
Abstimmungsergebnis: | Einstimmig beschlossen. |
Beschluss durch: | LDV in Neuwied |
Beschlossen am: | 25.11.2019 |
Eingereicht: | 25.11.2019, 16:06 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Die inklusive Gesellschaft gestalten
Beschlusstext
Vor zehn Jahren ist das UN-Menschenrechtsübereinkommen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) in Deutschland in Kraft getreten. Seither
gilt sie als verbindliches Recht in Bund, Ländern und Kommunen. Doch in der
Politik und Gesellschaft braucht es noch große Anstrengungen für ein Verständnis
der konsequent menschenrechtlichen Perspektive der Konvention. So bleibt der Weg
bis zur selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen noch weit.
Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Rheinland-Pfalz verfolgen wir einen weiten Ansatz
von Inklusion. Wir sind überzeugt davon, dass nur eine inklusive Gesellschaft,
die Menschen nicht nach Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter,
Behinderung, Hautfarbe, sexueller Identität oder Orientierung sortiert, sondern
alle einbezieht, ein gutes und friedliches Zusammenleben ermöglichen kann. Sie
schafft Strukturen, die nicht ausgrenzen, sondern Nachteile ausgleichen. Und sie
schafft Strukturen, die Wahlmöglichkeiten erlauben, Barrieren abbauen und durch
Transparenz und Einbeziehung Teilhabe ermöglichen. Wir setzen Mut gegen eine
Politik der Angst. Dazu müssen wir Menschen das Vertrauen vermitteln, in einem
Staat zu leben, der eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht.
Das ist heute wichtiger denn je. Denn wir erleben gerade eine Zeit besonderer
Herausforderungen. Die Klimakrise duldet keinen Aufschub. Nur konsequentes
politisches Handeln kann noch dazu beitragen, dass die Folgen der Erderwärmung
und des Artensterbens in einem Rahmen gehalten werden, der die Erde für uns
Menschen bewohnbar erhält. Unsere Wirtschaft und auch der Lebensstil vieler
Menschen werden sich verändern müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Denken wir
an den Automobilbereich: schon heute wissen die vielen Beschäftigten der großen
Konzerne und ihrer Zulieferer, dass der Verbrennungsmotor keine Zukunft hat. Sie
stehen einem Strukturwandel in ihrer Branche gegenüber, der für sie und ihre
Familien noch nicht kalkulierbar ist. Werden alle ihren Job behalten? Das ist
mindestens zweifelhaft. Aber was steht einem 50jährigen Industriearbeiter bevor,
wenn seine Stelle abgebaut wird. Ein Leben in Hartz IV? Das darf nicht
passieren, weil es zu persönlichen Härten führen würde, und es darf auch nicht
passieren, weil Rechtsextreme bereit stehen, gesellschaftliche Verunsicherung in
brutalen Hass auf Minderheiten zu verwandeln. Ihr Ziel besteht darin, den
Zusammenhalt in unserer Gesellschaft aufzulösen und die Demokratie durch ein
autoritäres System zu ersetzen.
Dem müssen wir entschieden entgegentreten und dem Hass eine attraktive und am
Wohl aller Menschen orientierte Politik entgegenstellen. Politik greift zu kurz,
wenn sie sich unaufhörlich an Einzelmaßnahmen abarbeitet aber nicht erkennen
lässt, in welche Richtung sie insgesamt steuert.
Viele Menschen vermissen in der Politik den Willen, Probleme grundsätzlich
anzugehen:
- dass unsere Städte wieder in die Lage versetzt werden, Akteure am
Wohnungsmarkt zu werden, damit dringend benötigter bezahlbarer Wohnraum
entsteht,
- dass unsere Dörfer dabei unterstützt werden, attraktive Lebensräume für
alle Generationen zu bleiben,
- dass regionale Wirtschaftsstrukturen gefördert werden, die soziale
Beziehungen stärken und regenerativ auf unsere Umwelt wirken,
- dass Barrieren abgebaut werden, um allen den Zugang zu öffentlich
genutzten Einrichtungen zu ermöglichen,
- dass die Leistungen und Assistenz gegeben wird, die notwendig sind, damit
alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben können,
- damit Einrichtungen überwunden werden, die in Wirklichkeit nicht inklusiv
sind, sondern selektieren,
- dass Abgrenzung und Gewalt zwischen unterschiedlichen Gruppen verhindert
wird, um eine gutes Zusammenleben zu ermöglichen.
Grundlegend für eine richtungsweisende Politik sind inklusive Lösungen, die für
unterschiedliche Bedarfe und Interessen gleichsam passende Strukturen schaffen.
Kein größeres Bauvorhaben darf ohne Sozialen Wohnungsbau errichtet werden. Die
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dürfen nicht abgesenkt werden,
stattdessen soll die Integration in ein Grundsicherungssystem für alle
umgestaltet werden, das nicht erniedrigt, sondern Perspektiven unterstützt.
Quartiers- und Gemeindezentren, die Beratungsangebote, Kindertagesstätten,
Unterstützungsangebote für alte und behinderte Menschen vorhalten und die
Begegnung von Menschen unterschiedlicher Generationen, sozialer Stellung und
Herkunft mit und ohne Beeinträchtigungen ermöglichen. Die soziale Infrastruktur
muss so ausgebaut werden, dass sie weniger spezifische Angebote für einzelne
Personengruppen, sondern gemeinsame Angebote für die jeweiligen Bedarfslagen
bereithält.
Für uns in Rheinland-Pfalz bedeutet das besonders:
- Mobilität sozial und barrierefrei ausbauen. In einem Flächenland ist
Mobilität ein besonderer Schlüsselfaktor für die gleichberechtigte
Teilhabe am Arbeitsleben und für die soziale Teilhabe. Deshalb müssen
Busse und Bahnen weiter ausgebaut werden, barrierefrei sein und ihre
sozial gerechte sowie günstige Nutzung gewährleistet sein.
- Erziehung und Bildung müssen endlich konsequent inklusiv organisiert
werden. Trotz vieler Maßnahmen auf gesetzlicher Ebene, in der Beratung und
der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte geht das Elternwahlrecht in
Richtung Sonderschulsystem. Dort werden Ressourcen gebunden, die für die
inklusive Bildung gebraucht werden. Hier müssen wir ansetzen für eine
inklusive Haltung und strukturelle Änderungen in allen Bereichen des
Bildungssystems, die mit den notwendigen Ressourcen unterstützt wird.
Dabei müssen Schulen künftig so gestellt werden, dass Schulausschlüsse von
beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern verhindert werden, weil es das
gemeinsame Verständnis aller beteiligten Strukturen ist, dass Schule sich
an den vielfältigen Bedarfen aller Schülerinnen und Schüler orientieren
muss.
- Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes muss konsequent für die Schaffung
von Inklusion im Arbeitsleben, beim Wohnen und in der sozialen Teilhabe,
bei Freizeit, Kultur und Sport genutzt werden. Individuelle Unterstützung
und Assistenz, Beratung und die Systematik der Vergütung von Einrichtungen
und Diensten müssen danach ausgerichtet sein, Sonderwelten für Menschen
mit Behinderungen zu überwinden, deren Selbstbestimmung zu stärken und ein
inklusives Land zu gestalten.
- Es sind die Kommunen, die dem Bundesteilhabegesetz vor Ort rechtliche
Wirksamkeit verschaffen. Wir wollen Sie dabei nach Kräften unterstützen
und setzen uns deshalb dafür ein, die Umsetzungsvereinbarung zum
Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX früher als vorgesehen zum Abschluss
zu bringen. Denn Vereinbarungen über Inhalt, Umfang und Qualität der
Leistungen der Eingliederungshilfe sind für die Gesamtplanung durch die
Träger der Eingliederungshilfe unverzichtbar. Zudem soll die
personenzentrierte, an den individuellen Bedarfen orientierte
stundenbasierte Vergütung umgesetzt werden, weil pauschale
Vergütungssätze, wie sie im Rahmen der Umsetzungsvereinbarung gezahlt
werden, die individuelle Bedarfsdeckung nach dem Grundsatz des BTHG
unmöglich machen.
- Regionale Wirtschaftsstrukturen, die inklusiv wirken, indem sie nicht nur
auf Effizienz und Gewinn ausgerichtet sind, sondern soziale Beziehungen
stärken und unsere natürlichen Lebensgrundlagen pflegen, sollen
miteinander vernetzt und gefördert werden. Die Wirtschaftsförderung 4.0
bietet ein Instrument, um das inklusive Wirtschaften in Rheinland-Pfalz zu
stärken.
- Eine inklusive Gesellschaft zu sein, die Diskriminierung aufgrund
Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, Behinderung, Hautfarbe, sexueller
Identität oder Orientierung verhindert. Dazu brauchen wir ein
Landesantidiskriminierungsgesetz als wichtiges gesellschaftspolitisches
Signal.
Mit diesem strukturellen Ansatz der Inklusion muss der Austausch der
gesellschaftlichen Gruppen, die Dialogbereitschaft, der Abbau von Vorurteilen,
die Förderung gemeinsamer Interessen und das intensivere kulturelle
Zusammenleben erreicht werden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Öffnung der Gesellschaft zu mehr
Lebensqualität geführt. Diese zu bewahren und fortzuentwickeln muss zentraler
Ansatz grüner Politik sein.
Nur eine inklusive Gesellschaft, die für die Unterschiedlichkeit der Menschen
Raum schafft und sie zu einem verständnisvollen, toleranten und offenen Umgang
in der Gemeinschaft ermutigt, kann den vielfältigen An- und Herausforderungen
unserer Zeit standhalten.
Inklusion ist ein Menschenrecht. Dieses umzusetzen ist eine Querschnittsaufgabe
in allen Politikbereichen und erfordert seine Verankerung als Strukturprinzip,
welches bei allen Gestaltungsvorschlägen zu berücksichtigen ist.
Das ist nicht neu für uns. Schon 2011 haben wir auf einer
Bundesdelegiertenkonferenz in Kiel beschlossen, dass sich der Grüne Kompass am
Leitbild einer inklusiven Gesellschaft orientieren soll.
Nun wird es Zeit für einen Abgleich:
Wo stehen wir? Ist es gelungen, die Arbeit der Partei sowie der Landtags- und
Kommunalfraktionen konsequent daran zu orientieren? Wo müssen wir nachlegen?
Diesen Prozess können und möchten wir nicht allein bewältigen. Wir sind
weiterhin auf die Mitwirkung möglichst großer Teile der Bürger*innengesellschaft
angewiesen und laden alle interessierten Gruppen dazu ein, mit uns über die
notwendigen Schritte zu beraten.
Begründung
erfolgt mündlich